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Monat: Dezember 2013

Neue Innovationsfehlerwege: Wenn das Phrasenschwein dreimal pfeift

Das Phrasenschwein ist auch so eine bedrohte Tierart. Die Zukunft-der-Medien-Debattierer stopfen gerade so viele Fünf-Euro-Scheine rein, dass es es irgendwann platzen muss. Verfolgt man zum Beispiel auf Twitter die Diskussion im Münchner Presseclub „Die Huffington Post Deutschland: Die Zukunft des Online-Journalismus oder ein Schritt in die falsche Richtung?“ fragt man sich: „Wie lange hält das arme Tier das noch aus? Und geht unwillkürlich in Deckung, um nicht von umherfliegenden Porzellanteilen getroffen zu werden. Folgende Sätze machen dem Schwein und einer konstruktiven Debatte besonders schwer zu schaffen:

  1. Wir müssen neue Wege gehen
  2. Wir müssen Fehler machen
  3.  Im Valley

Macht zusammen 15 Euro. Eine überschaubare Investition, aber dann doch zu wenig, um der Medienbranche weiterzuhelfen.

Lange Zeit hat man ja hilflose, tumbe Verleger als das eigentliche Problem ausgemacht. Es mag sie geben. Aber langsam frage ich mich, ob Innovationsfolkloristen im Kapuzenpulli wirklich die bessere Alternative sind. Nichts gegen das Valley (Disclaimer: Ich war noch nie im Valley, würde aber gerne mal hin und Sie müssen nicht weiterlesen, wenn ich mich damit in Ihren Augen disqualifiziert haben sollte).

Nichts gegen das Valley also, aber wenn die Medienbranche Innovationskultur lernen soll: Warum fängt sie nicht schon mal vor ihrer Haustür an und lernt von mittelständischen Maschinenbauern in Baden-Württemberg oder im Sauerland? Von Technologie-Unternehmen, die einfach nur innovativ sind? Das klingt echt uncool. Aber man könnte schon in Geislingen an der Steige und in Attendorn einiges mitbekommen. Zum Beispiel, Innovationen als absolut selbstverständlich zu betrachten und sie einfach zu machen, statt auf Medienpodien oder in Blogs darüber zu schwadronieren. Eigentlich ist es absurd: Wir sind die Technologie-Nation der Ingenieure und Erfinder, aber wir akzeptieren Innovationen nur, wenn man Hoodies dabei tragen kann.

Mein Vater war fast 40 Jahre Ingenieur in so einem langweiligen Unternehmen. Konstruktionsabteilung, Bereich Servotechnik. Von 7 bis maximal 17 Uhr, zum Mittagessen immer nach Hause. Sehr uncool, aber jede Menge Patente und immer schwarze Zahlen. Leider kann ich ihn seit einigen Jahren nicht mehr fragen, aber ich weiß, wie er auf „Wir müssen neue Wege gehen“ und „Fehler sind wichtig“ reagiert hätte: „Was glaubst du eigentlich, was wir in der Firma den ganzen Tag lang machen?“

Das Internet der unnützen Dinge

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Nicht, dass früher alles besser gewesen wäre. Aber im Kampf um den Titel „Jahr der Aufregungsökonomie“ liegt 2013 gut im Rennen.

Es ging los mit Rainer Brüderle und der Dirndlfigur einer „Stern“-Redakteurin. Danach diskutierten 60 Millionen deutsche Promotionsgutachter über eine erziehungswissenschaftliche Dissertation an der Universität Düsseldorf. Und wir hatten uns kaum über die Trennung von Christian und Bettina Wulff beruhigt, da setze das „SZ Magazin“ Peer Steinbrücks Mittelfinger auf den Titel.

Jetzt sind sich auch noch Marietta Slomka und Sigmar Gabriel ins Wort gefallen. Mehrmals. Laut „Focus“ ist so etwas schon ein „Eklat“; laut „Bild“ ein „Krawall-Interview“ und der „Spiegel“ räumte am Freitag einen Teil der Homepage frei, um den Leser direkt ins zuständige Online-Forum zu leiten.

Auf manchen Nachrichtenportalen fehlte nur noch die schnarrende Stimme des Kirmes-Promoters: „Kommense rein, kommense rein, meine Damen und Herren, kommense rein und regen Sie sich mal wieder richtig auf, wir Redakteure wollen Sie dabei auch nicht weiter stören“.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich bin selbst Journalist und lebe von Aufmerksamkeit. Ich freue mich über möglichst viele Leser. Ich müsste noch nicht einmal für ein werbefinanziertes Online-Portal arbeiten, um an großer Reichweite interessiert zu sein. Jeder Journalist, jeder Autor, jeder Blogger, einfach jeder, der schreibt, wünscht sich viele, die lesen.

Darum habe ich mit populären Themen auch kein Problem. Auf W&V Online haben wir selbst immer wieder über große Alltagsdebatten berichtet, über Medienphänomene und das, was kreative Köpfe im Netz daraus machen. Das tun wir das auch weiterhin. Aber nicht zu jedem Anlass.

Das „TV-Duell“ zwischen Slomka und Gabriel, über das in wenigen Tagen niemand mehr sprechen wird, war ein solcher Nicht-Anlass. Die W&V-Leser haben das genau so gesehen: Unser drei-Wörter-Artikel zur Frage, was das Interview für die Werbebranche bedeute („Nicht das Geringste“), stieß auf eine unglaubliche Resonanz.

Über 55.000 Facebook-Likes und eine noch viel höhere Zahl an Seitenaufrufen haben den Artikel übers Wochenende auf die Liste der meistgelesenen W&V-Artikel 2013 katapultiert. Auch der Zuspruch im Social Web (Danke für den Facebook-Link, Sascha Lobo) ist ein Signal gegen die nervige Aufregungsökonomie. Das heißt: Wir brauchen sie eigentlich gar nicht. Möge ihr gefährlicher Bluthochdruck sie im nächsten Jahr zwingen, ein bisschen kürzer zu treten.

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